Hermetik

Hermetik ist eine antike esoterisch-okkulte Offenbarungslehre. Der Name bezieht sich auf die mythische Gestalt des Hermes Trismegistos (der dreimal größte Hermes), dem Verfasser der berühmten Smaragdtafel , Quelle des bekanntesten hermetischen Diktums „Wie oben, so unten“ und dem Schlüssel zur Astrologie, Alchemie und anderen okkulten Wissenschaften. Die Geschichte der Smaragdtafel ist ebenso geheimnisvoll wie die ihres Autors. In der Renaissance galt Hermes Trismegistos als Zeitgenosse von Moses. Alle ihm zugeschriebenen Texte galten als altägyptisch und damit als maßgeblicher als die Bibel. Der Boden des Doms von Siena aus dem Jahr 1481 zeigt ein großes Bild von Hermes, wie er offenbar Männer aus Ost und West unterweist. Im Boden darunter sind in lateinischer Sprache die Worte „Hermes Trismegistos, der Zeitgenosse von Moses“ eingraviert. Man ging allgemein davon aus, dass Hermes entweder Moses unterrichtet hatte, von ihm unterrichtet worden war oder beides.  Der Ursprung des Beinamens „dreimal groß“ liegt vermutlich im Ibis-Schrein in Sakkara, Ägypten. Aufzeichnungen von einem Treffen des Ibis-Kults im Jahr 172 v. Chr. erwähnen den Namen megistou kai megistou theou megalou Hermou , „der größte und überragendste Gott, der große Hermes“. Der italienische Alchemist Bernardus Trevisanus (1406–1490) behauptete, Hermes werde der Dreimalgrößte genannt, weil sein okkultes Wissen die drei Naturreiche – Tiere, Pflanzen und Steine – umfasst habe. Er habe seine Kenntnisse den vorsintflutlichen Aufzeichnungen auf Steintafeln verdankt, die er nach der Sintflut entdeckt habe. Hermes gilt auch als Verfasser des  1Corpus Hermeticum, der wichtigsten Quelle der hermetischen Geheimlehren. Das erste Buch oder Traktat  im Corpus Hermeticum hanelt von Poimandres, dem höchsten göttlichen Geist (Nous), der dem Offenbarungsempfänger vor Augen tritt, ihm eine Vision ermöglicht und eine Belehrung über die Ursprünge von Welt und Mensch zuteil werden läßt. Laut dem ägyptischen Priester und Historiker Manetho wurden unter dem Pseudonym Hermes Trismegistus über 36.000 Bücher geschrieben. Die meisten davon sind jedoch verloren gegangen.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellte der Altphilologe Isaac Casaubon  die Vorstellung in Frage, heidnische Seher hätten Christi Wiederkunft vorhergesagt. Casaubon entdeckte platonische, jüdische und christliche Sprache und Ideen und kam zu dem Schluss, dass die hermetischen Lehren aus der frühchristlichen Zeit zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria stammen, einer Stadt, die damals von Rom regiert wurde. Diese Entdeckung, verbunden mit einer starken antihermetischen Bewegung innerhalb der Kirche und dem Aufstieg der modernen Wissenschaft – ein Beweis für einen tiefgreifenden Wandel im westlichen Bewusstsein – bedeutete den Untergang der Hermetik.  Die Offenbarungslehre wurde in den Untergrund verdrängt. In der Folge entstanden mehrere hermetische Gesellschaften, wie die Rosenkreuzer, die Freimaurer und der Hermetische Orden des Golden Dawn. Erst die Entdeckung dreier neuer, ganzheitlicher hermetischer Schriften in der Nähe von Nag Hammadi in Ägypten im Jahr 1945 weckte erneutes Interesse an der Hermetik.

Die technische Hermetica , die sich mit Themen wie Astrologie, Medizin, Botanik, Alchemie und Magie befasst, könnte bis ins zweite oder dritte Jahrhundert v. Chr. zurückreichen. Zu den wichtigsten Texten zählen unter anderem der Liber Hermetis , die griechischen Magischen Papyri , das Buch des Asklepios mit dem Titel Myriogenesis sowie die Smaragdtafel. Auf der anderen Seite gab es die religiös-philosophische Hermetica , eine Reihe religiöser, mystischer oder spiritueller Lehren, die zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. verfasst wurden. Der Kerntext ist das Corpus Hermeticum , eine Sammlung von siebzehn anonymen Schriften, von denen einige nicht vollständig erhalten sind. Zu den weiteren Texten der religionsphilosophischen Hermetica gehören der etwas längere lateinische Traktat „ Asklepios“ , Texte und Fragmente, die in der Anthologie des  Stobaeus gesammelt wurden, die drei Hermetica , die in den Codices von Nag Hammadi gefunden wurden und die armenischen Definitionen des Hermes Trismegistus an Asklepios.

Der Weg des Hermes beinhaltete veränderte Bewusstseinszustände, in denen die Praktizierenden behaupteten, die wahre Natur der Realität hinter dem halluzinatorischen Schleier der Erscheinungen zu erkennen. Die Praktizierenden durchliefen ein Trainingsprogramm, das Visionen, spirituelle Wiedergeburt, kosmisches Bewusstsein, um das erlösende Wissen, bekannt als Gnosis, zu erlangen. Es ist dieser veränderte Bewusstseinszustand, der zu veränderten Wissenszuständen führt. Im Hermetismus lebt die menschliche Seele ursprünglich in einem vollkommenen nicht-dualen Bewusstsein. Sie befindet sich außerhalb des Kosmos, in einem Reich jenseits von Raum und Zeit. Sobald sie in die planetarischen Sphären hinabsteigt und in den Körper eintritt, wird die Seele  von den dämonischen Peinigern der Dunkelheit, die Sünden oder Laster repräsentieren, verdorben. Das Problem ist nicht der Körper, sondern die Leidenschaften. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Gnostizismus , bei dem der Funke der menschlichen Seele in die Materie gefallen und von ihr gefangen ist. Es gibt ein dualistisches Weltbild mit einer materiellen und einer spirituellen Welt. Ziel der Gnosis ist es, dem Gefängnis der Welt zu entkommen und in die spirituelle Welt aufzusteigen. Dies ist erst nach dem Tod möglich, wenn man aus dem Gefängnis des Körpers befreit wird, das der bösartige Demiurg als Hindernis für die Erlösung geschaffen hat. Daher sind die Hermetiker keine Gnostiker, obwohl sie den gleichen Begriff Gnosis benutzen.

Die Hermetiker gehen davon aus, dass der vollkommene Zustand der Welt an ihrem Anfang bestanden hat und im Laufe der Jahrtausende verlorenen gegangen ist. Inhaltlicher Kern der hermetischen Lehre sind die sieben geistigen Gesetze, die die Beschaffenheit und Grundprinzipien des Lebens und des Seins definieren.

  1. Das Prinzip der Geistigkeit: Alles Materielle ist vom Geist geschaffen
  2. Das Prinzip der Analogie: Wie oben, so unten (Was oben ist, ist wie das, was unten ist);
  3. Das Prinzip der Schwingung: Nichts ruht; alles ist in Bewegung; alles schwingt;
  4. Das Prinzip der Polarität: Alles ist zweifach, alles ist polar; alles hat seine zwei Gegensätze;
  5. Das Prinzip des Rhythmus: Alles fließt;
  6. Das Prinzip der Kausalität: Jede Ursache hat ihre Wirkung;
  7. Das Prinzip des Geschlechts: alles besitzt männliche und weibliche Aspekte; Keine Schöpfung ist ohne dieses Prinzip möglich;
  • Die „religiös-philosophische“ Hermetik gibt Erklärungen für die Entstehung und Beschaffenheit der Welt und erteilt Anweisungen für die Erlangung von Weisheit und die Läuterung und Erlösung der Seele.
  • Die „technische“ Hermetik bezweckt Lebensmeisterung und Naturbeherrschung durch okkultes Wissen und Zauberei. Ihr Schrifttum beschäftigt sich überwiegend mit Magie, Astrologie und Alchemie.

In der abendländischen Kulturgeschichte ist die Hermetik breit und vielfältig rezipiert worden, vor allem in der Renaissance. Unter den Philosophen der Renaissance genoss die Hermetik höchsten Respekt. Sie galt zusammen mit anderen Traditionen – dem Platonismus, der Orphik, dem Zoroastrismus und den Lehren der Chaldäischen Orakel – als Erscheinungsform der sogenannten „alten Theologie“ (prisca theologia). Darunter verstand man eine in sich stimmige Gesamtheit von philosophischen Erkenntnissen und außerbiblischem Offenbarungswissen aus uralten Zeiten. Auch in der arabischsprachigen Welt wurde die okkultistische Strömung des antiken Hermetismus intensiv rezipiert. Eine arabische Legende aus dem  9. Jahrhundert berichtet von drei unter der Bezeichnung „Hermes“ bekannten bedeutenden Kulturträgern, wobei „Hermes“ als Titel aufgefasst wird. Der erste Hermes sei der Prophet und Wissenschaftspionier gewesen. Er wird mit Henoch und dem im Koran erwähnten Propheten Idrīs gleichgesetzt. Nach dieser Darstellung, lebte der erste Hermes vor der Sintflut in Ägypten und erbaute Pyramiden und Tempel. Auf Tempelwänden zeichnete er den damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand auf, um ihn vor der Vernichtung durch die Flut zu bewahren. Der zweite Hermes war ein Wissenschaftler, der nach der Sintflut in Babylonien tätig war und nach einer Version der Legende nach Ägypten auswanderte. Der dritte war ein ägyptischer Gelehrter, der Schriften über verschiedene Wissenschaften verfasste. Er war der Lehrer des Asklepios.

Auch die hermetischen Schriften in arabischer Sprache sind zahlreich. Sie gehören größtenteils zur okkultistischen Literatur.

Im mittelalterlichen Judentum machte sich im 12. Jahrhundert hermetischer Einfluss verstärkt bemerkbar. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts bauten einige Kabbalisten Gedankengut der technischen Hermetik in ihre Systeme ein.

Stark rezipiert wurde die Hermetik im 17. Jahrhundert auch bei den frühen Rosenkreuzern, deren Philosophie sowohl von ihren Wortführern als auch von ihren Gegnern mit der hermetischen Lehre gleichgesetzt wurde. Der englische Naturforscher Isaac Newton, wurde stark vom Rosenekreuzertum beeinflusst.  Der Glaube der Rosenkreuzer, besonders auserwählt zu sein, um mit Engeln oder Geistern kommunizieren zu können, spiegelt sich in Newtons prophetischen Überzeugungen wider. In einem Manuskript aus dem Jahr 1704 beschreibt Newton seine Versuche, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bibel zu gewinnen. Er schätzt, dass das Ende der Welt frühestens im Jahr 2060 eintreten wird. Bei seiner Vorhersage sagte er: „Ich erwähne dies nicht, um zu behaupten, wann die Zeit des Endes kommen wird, sondern um den voreiligen Vermutungen phantasievoller Männer ein Ende zu setzen, die immer wieder die Zeit des Endes vorhersagen und damit die heiligen Prophezeiungen in Misskredit bringen, so oft ihre Vorhersagen nicht eintreffen.“ Newton beschäftigte sich auch intensiv mit der Alchemie. Er schrieb einen Kommentar zur Tabula smaragdina, der unveröffentlicht blieb. Newton interessierte die alchemistische Vorstellung materieller Gegensatzpaare, deren Pole aufeinander einwirken, ineinander übergehen und dabei ein Drittes erzeugen. Newtons Schriften legen nahe, dass eines der Hauptziele seiner Alchemie die Entdeckung des Steins der Weisen (eines Materials, von dem man glaubte, es könne unedle Metalle in Gold verwandeln) und vielleicht, in geringerem Maße, die Entdeckung des heiß begehrten Lebenselixiers gewesen sein könnte . 

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1Beim Lesen des Corpus stößt man auf scheinbar große Unterschiede: monistisch oder dualistisch, optimistisch oder pessimistisch. Diese Variationen sind jedoch eher sequentiell als widersprüchlich. Sie stellen aufeinanderfolgende Ebenen des Verständnisses dar, Teil der spirituellen Reise des Eingeweihten, ein anagogischer Aufstieg zur Gnosis , vergleichbar mit dem Erklimmen der Jakobsleiter zum Himmel. Durch Theurgie (das Wirken der Götter) können wir die Götter um Hilfe bitten, indem wir Rituale und Zeremonien so gestalten, dass wir die richtigen Bedingungen für das Erscheinen der Götter schaffen, indem wir die richtigen Worte verwenden und die richtigen Opfergaben darbringen. Anstatt dass wir versuchen, die Götter zu erreichen, sind es sie, die herabsteigen, um unsere Seele zu heilen.

Im Corpus erfahren wir auch, dass die Idee des Todes nicht existiert, sie ist eine Illusion. In Wirklichkeit gibt es nur Schöpfung und Transformation, nichts vergeht. So wie Energie weder erzeugt noch zerstört, sondern nur von einer Form in eine andere umgewandelt werden kann. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos widerspiegelt, wie oben, so unten. Wenn der Körper sich auflöst, geht er wieder in die Natur auf, und die Seele geht im Kosmos auf und kehrt ins Unmanifeste zurück, damit neue Geschöpfe entstehen können. Der Kosmos wird nie zerstört, die Zyklen sind eine ständige Rotation, und das Mysterium ist die Erneuerung. Die wahre Natur der Realität ist nicht Sterblichkeit, sondern Unsterblichkeit.