Leben im Eis

Das Ökosystem Gletscher ist für die meisten Lebewesen ein lebensfeindlicher Ort. Doch Gletscher sind überraschenderweise das Zuhause unzähliger winziger Organismen und somit ein vielfältiges Ökosystem. Einer davon ist der Eiswurm. Der Eiswurm gehört zu den Ringelwürmern. Er ist eine Beispiel dafür wie Lebewesen im Eis überleben können. Sein  Lebensraum ist das Eis. Bei niedrigen Temperaturen, verlangsamen sich die Körperfunktionen von Warmblütern und ihr Energielevel sinkt – das ist ein biologisches Gesetz. Sie müssen dann Energie verbrennen, um ihre Körpertemperatur einigermaßen konstant zu halten, Kaltblüter werden, wenn es zu kalt wird, verfallen in einen Winterschlaf oder in eine Winterstarre. Nicht so der Eiswurm. Je kälter es wird, desto mehr Energie hat er. Untersuchungen des körpereigenen Nukleotid-Molekül mit dem Namen Adenosintriphosphat (ATP) ergab erstaunliche Erkenntnisse. ATP bringt als Energieträger die Energie direkt in die Körperzellen und ist wichtig für die Durchblutungs- und Stoffwechselregulation sowie körperliche Regenerationsprozesse. Gebildet wird es durch das komplexe Enzym ATP-Synthase, das in nahezu allen Organismen identisch ist. ATP ist zu fast 100 Prozent effizient – eine außerhalb der Natur unerreichte Quote. Doch bei den Eiswürmern gibt es eine kleine genetische Änderung an diesem Mechanismus. Ein wenig Extra-DNA sorgt in ihnen für zusätzliche ATP-Synthase, wodurch die Produktion von ATP beschleunigt wird, was ein Überleben im Eis ermöglicht. Zusätzlich zu dieser genetischen Besonderheit verfügen Eiswürmer auch über einen modifizierten Thermostat in ihren Zellen, der dafür sorgt, dass die ATP-Produktion auch bei niedrigen Temperaturen weiterläuft. Die Kombination dieser beiden speziellen Eigenschaften führt dazu, dass die Konzentration von ATP in den Zellen der Eiswürmer um ein Vielfaches höher ist als bei anderen Lebewesen, was wiederum erklärt, wieso ihr Energielevel auch bei extremer Kälte hoch bleibt. Eiswürmer sind ausserdem randvoll mit Melanin. Dieses Pigment befindet sich im menschlichen Körper in der Haut und schützt diese vor UV-Strahlung. Bei den Eiswürmern wurde Melanin jedoch überall im Körper festgestellt: im Gehirn, im Verdauungstrakt, in den Muskeln. Es gibt Forschungsergebnisse, laut denen Melanin unter gewissen Umständen dazu in der Lage sein soll, aus Sonnenstrahlen Energie zu gewinnen. Es wird vermutet, dass genau dieser Prozess im Körper der Eiswürmer ablaufen könnte.

Der braune bis schwarze, stark pigmentierte Wurm, mit einer Länge von ca. 15 mm und einen Durchmesser von ca. 0,5 mm, ist jedenfalls der einzige bekannte Ringelwurm, der an ein Leben im Eis angepasst ist. Er lebt im Eis der Gletscher der südlichen Küstenregion Alaskas bis in die Küstenregion British Columbia, der Kaskadenkette in Washington bis zu den Three Sisters in Oregon. Auf Gletschern im Inland wurde die Art nicht nachgewiesen. Die Würmer können im Gletschereis pro Tag mehrere Fuß vordringen. Sobald die Oberfläche am Nachmittag schattig wird, erscheinen die kleinen Würmer in Massen von 100 bis 200 Stück pro Quadratmeter an der Oberfläche, um Algen, Mikroben und anderen Detritus, also Schweb- und Sinkstoffe sowie abgestorbene Organismen, zu fressen. Bei Sonnenaufgang graben sie sich wieder in das Eis ein, den Winter verbringen sie komplett im Eis. Der Wurm ernährt sich überwiegend von Schneealgen, die im Eis von Gletschern leben, kann aber auch ein Jahr ohne Nahrung auskommen. Schneealgen sind mikroskopisch kleine Süßwasseralgen, die auf den ewigen Schneeflächen und auf den Gletscherflächen der polaren und alpinen Regionen der Erde vorkommen.

Der Eiswurm ist bei Temperaturen um den Gefrierpunkt am aktivsten. Die Temperaturtoleranz liegt zwischen ± 7 °C um den Gefrierpunkt. Steigt die Temperatur, so wird er lethargisch und bei über 10 °C stirbt er; der Kadaver beginnt sich bei Temperaturen über 20 °C zu zersetzen, weil sich die Membranen verflüssigen. Für die NASA ist der Eiswurm sehr interessant. Denn ein Wurm, der sich nur im ewigen Eis so richtig wohl fühlt und über ein Jahr lang hungern kann, könnte Hinweise darauf geben, wie außerirdisches Leben in unwirtlichen Umgebungen möglich ist. Dadurch wird zum Beispiel vorstellbar, dass extraterrestrisches Leben auf dem Saturnmond Europa existiert.