Die großen Tierwanderungen

Die genauen Auslöser der Tierwanderung, ob Wandertrieb oder konkrete Reaktion auf Umweltbedingungen, und die Orientierungsmechanismen (etwa der Magnetsinn der Zugvögel) sind noch nicht hinreichend genau erforscht.

Es gibt ca. 4000 Wirbeltierarten, die Hin- und Rückwanderungen ausführen und von der Forschung als echte Wanderer (true migrants) eingestuft wurden. Davon allein 1000 Fischarten. Auch wenn die Bereitschaft zur Wanderung vermutlich häufig genetisch festgelegt ist, werden zwei weitere Ursachen angenommen:

  1. Ein unzureichendes Nahrungsangebot gepaart mit ungünstigen Witterungsbedingungen (Beispiel der Vogelzug)
  2. Die Fortpflanzung. Ansonsten weit verstreut lebende Tiere ziehen zur Paarungszeit häufig zu bestimmten Plätzen, um einen Partner zu finden.

Zweimal im Jahr legten einst große Tierherden von mehr als 50.000 Gnus und Zebras jeweils zu Beginn und zum Ende der Regenzeit einen Wanderweg von mehr als 250 Kilometern zurück. Auf dem Weg vom Okavanga Delta im Norden von Botswana wanderten sie wochenlang in Richtung der Makgadikgadi-Salzpfannen. Während der Regenzeit ist diese Region von Wasser durchtränkt und saftig grün, sodass Pflanzenfresser hier ausreichend Futter finden. Diese historische Wanderung kann sich mit der alljährlichen Wanderung der Gnus in der Serengeti messen. Mehr als eine Million Gnus, begleitet von Hunderttausenden Thomson Gazellen und Zebras, machen sich jährlich auf die große Reise durch die Serengeti in Tansania und teilweise durch den Masai Mara National Park in Kenia. Diese große Tierwanderung, auch Great Migration genannt, ist eines der Wunder Afrikas. Die genaue Route und das genaue Timing hängen vom Regen und der verfügbaren Nahrung ab und sind daher jedes Jahr anders. Gnus und Zebras brauchen sich während der Wanderung gegenseitig: Gnus sind gut darin, Wasserquellen zu finden, und Zebras kennen den Weg der Wanderung. Die gigantische Wanderung von Antilopen im Südsudan und in Äthiopien umfasst nach neuesten Untersuchungen rund sechs Millionen Tiere. Damit handelt es sich um die weltweit größte Wanderung von Landsäugetieren. Sogar die Wanderung der Gnus zwischen der tansanischen Massai Mara wird übertroffen. Die Antilopen ziehen jedes Jahr vom Bandingilo Nationalpark am weißen Nil Richtung Norden und Osten. Eine Frage, die Forscher dabei schon immer beschäftigte war, wie orientieren sich die Tiere in der Landschaft? Benutzen sie irgendwelche Navigationsmechanismen? Wenn ja, welche? Navigieren die Tiere mithilfe ihrer Erinnerung oder orientieren sie sich an der Landschaft. Bei Vögeln sind diese Fragen längst beantwortet. Zugvögel legen enorme Strecken zurück, um in wärmeren Gegenden zu überwintern. Sie orientieren sich am Stand der Sonne. Viele Vögel legen jedoch große Teile ihrer Reise in der Nacht zurück. Sie benutzen zum Navigieren das Magnetfeld der Erde. Dieses nehmen sie mit ihrem Magnetsinn wahr.

Bei den Säugetieren steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen. Eine mögliche Antwort gibt eine kürzlich durchgeführte Studie der Royal Veterinary College der University of London. Hierzu ist ein kurzer Rückblick notwendig. Kurz, nachdem Botswana 1966 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, schloss das Land einen lukrativen Vertrag mit der Europäischen Union ab, um europäische Länder mit Vieh zur Schlachtung zu versorgen. Die Viehzüchter errichteten endlose Viehzäune, um ihr Vieh von Büffeln – und damit auch von anderen Wildtieren wie Elefanten, Giraffen, Löwen, Leoparden und Zebras – zu separieren. Dies geschah auch, um eine Ansteckung mit der insbesondere von Büffeln verbreitete Maul- und Klauenseuche zu verhindern. Doch die Errichtung der endlosen Zaunsysteme unterbrach nicht nur die jahrhundertealten Wanderrouten der Tierherden, sondern schnitt die Tiere auch von wichtigen Wasserquellen ab. Die Auswirkungen waren verheerend. Die Populationen der Gnus und Zebras brachen ein, Tausende Tiere starben. Das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen Entscheidungen ist nach wie vor nicht bekannt, doch Forscher sind sich einig, dass die großen Tierwanderungen unverzichtbar sind, um die Verbindung zwischen Ökosystemen auch über Landschaften hinweg zu erhalten. Sie hoffen, dass aufgrund einer in heutiger Zeit zunehmenden Priorisierung des Naturschutzes, die alten Wanderrouten wiederhergestellt werden könnten. Das beruht auf der Erkenntnis, dass Zebras die Wanderrouten ihrer Vorfahren wiederentdecken können, wenn physische Barrieren wie Zäune entfernt werden. Dr. Hattie Bartlam-Barnes vom Royal Veterinary College der University of London entdeckte, dass die weitestgehend ausgestorbene alte Zebrawanderroute vom Okavangodelta zu den Makgadikgadi-Salzpfannen wieder von mehreren Hundert Tieren genutzt wird. Die Wanderungen lebten wieder auf, nach dem der nördliche Nxai-Pan-Zaun, der die Wanderroute von 1968 bis 2006 vollständig versperrte, wieder entfernt wurde.

Eine ähnlich lange, gleichfalls unterbrochene Zebrawanderung vom botsuanischen Fluss Chobe im Süden bis zum Nxai-Pan-Nationalpark etwas nördlich der Makgadikgadi-Salzpfannen, lebte ebenfalls wieder auf. Sie ist inzwischen sogar die längste bekannte Säugetierwanderung des ganzen afrikanischen Kontinents. Der Rundweg von etwa 480 Kilometern Länge schlägt sogar die weltweit bekannte Wanderung der Gnus in der Serengeti. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Tiere eine Art genetisch kodierte Erinnerung an die alten Wanderrouten haben. Das könnte erklären, wie die Tiere ihre Route auch nach mehreren Generationen noch wiederfanden. Erste gesicherte Forschungsergebnisse belegen, dass eine Erinnerung an die Wegstrecke der entscheidende Faktor für die Navigation ist. Die Tiere folgen auch nach Generationen stur der alten Wanderroute und spulen praktisch immer dasselbe Programm ab. Sie erinnern sich an die Wegstrecke, beziehen aber auch saisonale Veränderungen in ihre Erinnerung mit ein. Das beweist ein Zaun, der viele Jahre lang den Weg Richtung Makgadikgadi blockiert hatte. Er stand dort länger als Zebras überhaupt leben. Dennoch wurde diese Information irgendwie weitergegeben. Daher müssen die Wanderstrecken maßgeblich von der Erinnerung vorgegeben werden. Es bleibt aber ein Geheimnis, wie es zu dieser Erinnerung kommt oder wie sie weitergegeben wird. Das kann genetisch bedingt sein wie bei Vögeln oder durch Lernen in der Gruppe.

Ein weiteres Rätsel sind die Wanderungen der Walhaie. Die großen Fische ernähren sich hauptsächlich von Algen, Plankton und Krill. Die Tiere haben sich über viele tausend Jahre an die Nahrungsquelle, Zooplankton und deren ernährungsphysiologischen Abläufe angepasst.  Walhaie sind auch die größten und rätselhaftesten Fische der Welt. Die rätselhaften Meeresriesen tauchen auf ihren Wanderungen in Tiefen bis 1900 Metern ab. Bisher wissen Forscher nicht, warum es die Tiere in die Tiefsee zieht. Möglicherweise folgen Sie einer Futterquelle, oder setzen sich zur Paarungszeit in Bewegung, aber vielleicht steckt auch ein ganz anderer Impuls dahinter. Ein Forscherteam hat vor der Küste Panamas mehr als 45 Walhaie mit einem Sender ausgestattet, um Näheres über die Routen der Tiere zu erfahren. Eines der Tiere legte eine Rekordstrecke von 20.142 Kilometern zurück. Der Annie getaufte Walhai überquerte auf seiner Wanderung einmal den Pazifik. Er schwamm zuerst zu den Kokosinseln und dann Richtung Galapagos, als er plötzlich vom Radar verschwand. Lange Zeit, 235 Tage, gab es kein Lebenszeichen von Annie. Die Forscher vermuten, dass sie in dieser Zeit den Marianengraben durchquerte und sich in der Tiefsee aufhielt. Dann tauchte Annie plötzlich vor den Marshallinseln wieder auf und schwamm bis nach Hawaii. Das ist die längste bisher bekannte Wanderroute eines Walhais. Walhaie können bis zu 67 Kilometer pro Tag zurücklegen. Bei ihren langen Wanderungen folgen sie dem Nordäquatorialstrom, einer warmen ringförmigen Meeresströmung, die im Pazifik, Atlantik und dem Indischen Ozean vorkommt. Etwa ein Viertel der weltweiten Population lebt in den warmen und tropischen Gewässern des Atlantiks, während drei Viertel der Population im Indischen Ozean ihr Habitat hat. Aus welchen Gründen Walhaie überhaupt ihre langen Wanderungen unternehmen, ist noch nicht endgültig geklärt. Am wahrscheinlichsten erscheint die Theorie, dass die Wanderungen auch etwas mit dem Fortpflanzungsverhalten der Walhaie zu tun haben. Genuntersuchungen haben nämlich gezeigt, dass manchmal auch weit auseinander lebende Walhaie eng miteinander verwandt sind.

Auch Galapagos-Riesenschildkröten begeben sich auf eine bis zu zehn Kilometer lange Wanderung ins Hochland der Inseln. Die bis zu 250 Kilogramm schwere Riesenschildkröten verbringen die Trockenzeit in den höheren Regionen bis zu 400 Meter über dem Meeresspiegel. Vor allem die ausgewachsenen, dominanten Schildkröten-Männchen begeben sich auf die anstrengende Reise. Erwachsene Weibchen bleiben zunächst bis zur Eiablage im Tiefland, bis sie sich dann ebenfalls sich auf den Weg ins Hochland begeben. Die kleineren Schildkröten dagegen bleiben das ganze Jahr über in den niedriger gelegenen Gebieten. Warum dies so ist und warum die Tiere die Trockenzeit nicht einfach in einer Ruhezeit überdauern, ist eins der faszinierenden Geheimnisse der Natur.


Die geheimnisvolle Wanderung des Zooplankton

Zweimal am Tag brechen unzählige Organismen im Meer auf zur größten Tierwanderung der Welt. Jeden Abend nach Sonnenuntergang beginnen sie eine Reise in Richtung Oberfläche. Kurz vor Sonnenaufgang folgt die Rückreise in die Tiefe. Die meisten dieser Organismen sind Lebewesen des Planktons, Kleinstlebewesen aus dem Wasser, die sich mithilfe der Strömung fortbewegen. Es gibt Phytoplankton aus kleinen Pflanzen und Zooplankton aus winzigen Tieren (z. B. Ruderfußkrebse, Flügelschnecken etc.). Phytoplankton sind einzellige Algen, die sich in den oberen Schichten der Ozeane aufhalten und von Fotosynthese leben. Seit dem 19. Jahrhundert ist bekannt, dass Zooplankton, also tierisches Plankton, täglich in die Tiefe, weg vom Licht schwimmt. Die Ausmaße dieses Phänomens im Ozean ist gigantisch. Mithilfe von Sonartechnik wurde im Meer in 300 bis 500 Metern Tiefe eine schallreflektierende Schicht aus Plankton festgestellt, die als »deep scattering layer«  bezeichnet wird und tagsüber mehrere hundert Meter weit aufsteigt. Auch Krill Plankton, garnelenartige Tiere, die in riesigen Schwärmen durch die Nordmeere ziehen, unternimmt solche Tiefreisen. Dieses rätselhafte Wanderverhalten existiert weltweit, auch wenn Uhrzeiten und die zurückgelegten Höhenmeter schwanken. Beeinflusst wird der Ablauf jedoch durch Breitengrad, Jahreszeit oder beteiligte Tierarten wie Fische oder Wale. Mittlerweile sind sich Forscher sicher, dass diese Vertikalmigration für das Meeresökosystem, die Fischerei und die Klimaforschung von enormer Bedeutung sind. Forscher waren lange uneins, ob ein äußerer Stimulus, wie Licht oder Sauerstoffgehalt, oder etwa ein genetisch vorprogrammierter Trieb, die Wanderungen auslöst. Mittlerweile tendiert man zu einer gemischten Theorie: Gene steuern den Rhythmus und Sonnenlicht sowie andere Umwelteinflüsse passen den Takt an. Selbst im stockdunklen Polarwinter vollführt Krill die täglichen Wanderungen – obwohl die Sonne als Taktgeber fehlt. Dennoch bewegen sich Milliarden von Krebsen und Einzeller regelmäßig auf und ab. Wie Forscher jetzt herausgefunden haben, dient diesen Meerestieren dabei der Mond als Taktgeber. Die Tiere folgen dabei nicht dem 24-Stunden-Tag, sondern einem Takt von 24,8 Stunden. Diese Periode entspricht der Zeitspanne, die der Mond über dem Horizont zu sehen ist – einem Mondtag gewissermaßen. Wie sie das schwache Mondlicht im Wasser wahrnehmen, ist jedoch bisher unklar. Viele Untersuchungen legen nahe, dass sich dieses Verhalten im Laufe der Evolution entwickelt hat, um im Schutz der Dunkelheit zu bleiben und Jägern zu entkommen. Zooplankton oder Krill ernährt sich von Phytoplankton wie etwa Kieselalgen. Letztere brauchen für die Fotosynthese viel Licht und schweben deshalb nahe der Oberfläche. Doch Zooplankton ist im vollen Tageslicht leichte Beute für Fressfeinde. Das wäre ein Grund, weshalb so viele Tierarten im Wasser auf- und ab schwimmen: Sie fressen vorsichtshalber nur nachts. Die Wanderung des Planktons hat noch wichtige Nebeneffekte: Plankton baut CO₂ ab und produziert über die Hälfte des Sauerstoffs der Atmosphäre. Durch Fotosynthese entzieht Phytoplankton der Atmosphäre Kohlendioxid (CO₂) und bindet es zu Kohlenstoff. Dieser geht in den Nahrungszyklus ein und verbleibt dann in gebundener Form. Ein Teil des gebundenen Kohlenstoffs sinkt mit den Ausscheidungen der Tiere in die Tiefe. Ein weiterer Teil verbleibt im Plankton. Phytoplankton im Meer besteht im Verhältnis von 106 zu 16 zu 1 aus Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor. Je wärmer das Wasser, desto mehr Kohlenstoff enthält das Plankton. Die fortschreitende Klimaerwärmung könnte diesen Prozess nachteilig beeinträchtigen. Zooplankton ist die Hauptnahrungsquelle für viele Arten von Süß- und Meerwasserfischen insbesondere auch Wale. Sie haben sich über viele tausend Jahre an die Nahrungsquelle, Zooplankton und deren ernährungsphysiologischen Abläufe angepasst.  Das Nahrungsverhalten kann durch die globale Erwärmung ebenfalls negativ beeinflusst werden.