Am Anfang war das Virus

Vor 4,5 Milliarden Jahren entstand die Erde, und seit 3,8 Milliarden gibt es die Ribonukleinsäuren (RNS). Wie sie entstand, weiß man nicht, aber wahrscheinlich kam sie nicht aus dem All. Das erste Biomolekül war eine RNS. Es ist enzymatisch aktiv und kann sich selbst verdoppeln. Solche vermehrungsfähige RNS  wird  Ribozyten (= Ribo(nukleinsäure) + (En)zym)) genannt.

RNS ist bei bestimmten Virentypen sowie den hypothetischen urzeitlichen Ribozyten Träger der Erbinformation, also die materielle Basis der Gene.

Ribozyten wurden 1989 von den Biochemikern Sidney Altman und Thomas R. Cech entdeckt. Zuvor war man davon ausgegangen, dass nur Proteine über eine katalytische Aktivität verfügen können. Etwa 20 Prozent des menschlichen Körpers besteht aus Proteinen. Proteine haben vielfältige Funktionen. Sie sind unter anderem als Stickstofflieferant für den Aufbau und Erhalt von Muskeln und Organen verantwortlich. Überdies wirken sie als Enzyme, Hormone, Strukturproteine, beispielsweise in Form von Kollagen, Elastin und Keratin, als Transportproteine sowie als Faktoren der Blutgerinnung. Proteine werden aus vielen unterschiedlichen, miteinander verknüpften Aminosäuren aufgebaut. Es gibt zwanzig verschiedene Proteinbausteine oder sogenannte Aminosäuren, die üblicherweise bei Pflanzen und Tieren zu finden sind. Noch nicht alle gut 20 Aminosäuren heutiger Proteine waren bereits vor vier Milliarden Jahre Teil der belebten Welt. Die ersten Proteine bestanden aus einem reduzierten Bausatz von nur sieben oder acht verschiedenen Aminosäuren. Der Bausatz heutiger Proteine hingegen umfasst gut 20 Aminosäuren. Der genetische Code, der allem heutigen Leben auf der Erde zugrunde liegt, würde eigentlich mehr als die 20 universellen Aminosäuren erlauben, wahrscheinlich bis zu 64 verschiedene Aminosäuren. Stattdessen setzt die Natur auf «nur» gut 20 Aminosäuren. Damit  hat die Evolution wahrscheinlich ein momentanes Optimum erreicht. Neben den 20 universellen Aminosäuren kommt heute bei vielen Lebewesen, auch beim Menschen, eine 21. Aminosäure namens Selenocystein vor. Bei bestimmten Mikroorganismen, den Archaeen, gibt es zudem eine 22. Aminosäure: Pyrrolysin. Der Einbau dieser beiden zusätzlichen Aminosäuren in Proteine ist komplexer als jener der 20 universellen Aminosäuren. Daraus schließen Wissenschaftler, dass sich der genetische Code in den letzten Milliarden Jahren evolutiv verändert hat. Abgeschlossen ist die Evolution jedoch noch nicht. Es ist gut möglich, dass in deren weiteren Verlauf zusätzliche Aminosäuren in den Code aufgenommen werden.

Die Gesamtheit aller Proteine zu einem bestimmten Zeitpunkt im menschlichen Körper wird Proteom genannt. Das menschliche  Proteom steht in einem Gleichgewicht ständiger Neubildung von Proteinen bei gleichzeitigem Abbau nicht mehr benötigter Proteine. Damit ist das Proteom im Gegensatz zum relativ statischen Genom (= Erbgut) ständig Änderungen in seiner Zusammensetzung unterworfen. Diese Änderungen werden durch Umweltstimuli, Krankheiten, Wirkstoffe und Medikamente beeinflusst.

Bis heute ist die Frage ungeklärt, wie Viren entstanden sind. Klar ist jedoch, dass Viren die irdischen Lebensformen schon sehr lange begleiten und mit ihnen permanent in enger Wechselwirkung standen und stehen. Knapp die Hälfte des menschlichen Erbgutes besteht aus verstümmelten Virengenen, die man heute noch nachweisen kann. Einige sind hundert Millionen Jahre alt, also viel älter als Homo sapiens. Es müssen also Keimzellen in Urzeiten immer wieder mit Viren infiziert und dann von Generation zu Generation weitervererbt worden sein. Der französische Virologe Thierry Heidmann rekonstruierte 2006 aus 50 Millionen Jahre alten Virusresten im menschlichen Erbgut ein intaktes Virusgenom und erzeugte damit vermehrungsfähige Viren. Besonders spektakulär ist die Panspermie-Hypothese, wonach Bakterien und Viren aus dem Weltall auf die Erde gelangten und den noch leblosen Planeten mit Biomolekülen „geimpft“ hätten. Dafür , gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Belege. Durchaus plausibel ist jedenfalls, dass Viren längere Zeit im Vakuum des Weltalls überdauern können, insbesondere im Inneren von Meteoriten. In einigen dieser auf die Erde gestürzten Himmelskörper haben Wissenschaftler jedenfalls eine große Zahl verschiedener Biomoleküle nachweisen können – bis hin zu Nukleinsäuren, die man als molekulare Bausteine des Lebens bezeichnen kann. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es Viren auch auf dem Mond und auf dem Planeten Mars.

Aber es gibt auch immer wieder neue Viren. Um solchen neuen Erregern auf die Spur zu kommen, wenden Forscher eine aufwendige und teure Methode an, das Deep Sequencing. „Dabei werden die Bausteine aller Gene in einer Zelle analysiert. Man erhält dann Millionen von Gensequenzen, die per Computer mit Sequenzen verglichen werden, die in Datenbanken hinterlegt sind. Nimmt man alles heraus, was nicht in Beschreibungen menschlicher Gene hineinpasst, bleibt vielleicht ein Gen übrig, und das kann ein neues Virus sein. So hat man schon mehrere neue Viren gefunden.

Der Samen des Lebens ist wahrscheinlich in Form von Viren oder Virus-Fragmenten auf die Erde gelangt. Zwischen einem Virus und einem Bakterium gibt es keinen großen Unterschied, was ihren Informationsgehalt angeht. Ein Virus enthält ungefähr 100.000 Bit an Informationen, ein Einzeller wie das Darmbakterium Escherichia coli eine runde Millionen. Der fehlende Datensatz an Informationen zur Zündung des Lebens ist vielleicht von Viren auf die Erde gebracht worden, die sich dann auf der Erde organische Moleküle gesucht haben, mit denen sie eine Verbindung eingehen konnten. Dies wäre der erste Schritt hin zur Entstehung komplexerer Lebensformen gewesen. Wissenschaftler nennen das Nekropanspermie. Viren wären schon aufgrund ihrer geringen Ausmaße ein geeigneter Kandidat für den Transport durchs All. Bei einer Größe von vielleicht zehn Nanometern, also einem hundertstel Millimeter, könnte ein einziges Staubkorn im Weltraum ungefähr 1000 Viren befördern. Auf der Erde angekommen, wären die Virenbruchstücke allein durch chemische Reaktionen, zum Beispiel an heißen Quellen, zum Wachstum angeregt worden.

Gletschereis z. B. ist ein wichtiges Reservoir für Bakterien und Viren. Manche dieser Mikroorganismen waren für Jahrhunderte oder Jahrtausende im Eis eingeschlossen und gelangen nun durch den fortschreitenden Klimawandel wieder in die Umwelt. In den letzten Jahren wurden Bakterien entdeckt, die extreme Bedingungen überstehen: kilometertief unter der Erde, in kochenden Geysiren oder im Eispanzer am Südpol. Auch auf dem Mars, folgern Forscher deshalb, könnten unbekannte Mikroorganismen existieren – und zwar knapp unterhalb der sterilen Planetenoberfläche, wo sie vor der UV-Strahlung geschützt sind.