Der namenlose Apostel
Der Evangelist Johannes gilt als Hauptautor des Johannesevangeliums. Die Tradition setzt ihn mit dem Apostel Johannes als dem Lieblingsjünger Jesu gleich. Im Johannesevangelium wird als Autor des Textes der namenlose Lieblingsjünger Jesu genannt:
Joh 21,20–24: Petrus wandte sich um und sah, wie der Jünger, den Jesus liebte, (diesem) folgte. Es war der Jünger, der sich bei jenem Mahl an die Brust Jesu gelehnt und ihn gefragt hatte: Herr, wer ist es, der dich verraten wird? Als Petrus diesen Jünger sah, fragte er Jesus: Herr, was wird denn mit ihm? Jesus antwortete ihm: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht das dich an? Du aber folge mir nach! Da verbreitete sich unter den Brüdern die Meinung: Jener Jünger stirbt nicht. Doch Jesus hatte zu Petrus nicht gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht das dich an? Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“
Die Verfasserschaft des „Lieblingsjüngers wird ausdrücklich bezeugt, ohne jedoch einen Namen zu nennen. Die Identifikation mit dem Apostel Johannes unterbleibt. Nach Petrus ist Johannes vielleicht der bekannteste der ursprünglichen Zwölf Apostel Jesu. Das meiste, was man über Johannes stammt aus den ersten drei Evangelien. In allen dreien wird berichtet, dass Johannes der Sohn eines wohlhabenden Fischers aus Galiläa war. Dieser hieß Zebedäus. Johannes und sein Bruder Jakobus arbeiteten als Fischer auch mit den Brüdern Petrus und Andreas zusammen. Alle vier ließen die Fischerei hinter sich, als Jesus sie aufforderte, ihm zu folgen und ausschließlich als seine Jünger tätig zu sein. Zebedäus wird zwar in den Evangelien nicht erneut erwähnt, aber die Mutter von Jakobus und Johannes folgte Jesus ebenfalls nach und erlebte die Kreuzigung mit.Man kennt sie normalerweise unter dem Namen Salome; möglicherweise war sie eine Schwester von Maria, der Mutter Jesu. Somit wären Jakobus und Johannes Cousins ersten Grades von Jesus und auch Verwandte von Johannes dem Täufer gewesen. Im Johannesevangelium werden die beiden Söhne des Zebedäus nur einmal erwähnt, und zwar im letzten Kapitel als zwei der sieben Jünger, die den auferstandenen Herrn am See Gennesaret trafen. Doch ohne ihre Namen zu nennen. Aber Überlieferungen zufolge, war Johannes der namenlose „Jünger, den Jesus liebte“, der beim Abschiedsmahl anwesend war sowie bei der Kreuzigung, am leeren Grab und beim letzten Erscheinen Jesu am See Gennesaret. Er könnte auch der zweite Jünger gewesen sein, der gemeinsam mit Andreas Johannes dem Täufer nachgefolgt war und diesen hatte bezeugen hören, Jesus sei das Lamm Gottes (Joh 1:35-40). Vielleicht auch der Jünger, der Petrus nach der Verhaftung Jesu begleitete und Petrus half, Zugang zum Hof des Hohepriesters zu erlangen (Joh 18:15,16). Wie im Johannesevangelium wird Johannes auch in keinem der drei Briefe, die ihm zugeschrieben werden, je namentlich erwähnt. Der erste Johannesbrief wurde nach dem Johannesevangelium geschrieben und beginnt damit, dass der Verfasser Zeugnis für Jesus Christus gibt: „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens.“ (1 Joh 1:1). Der Verfasser tritt aber nicht nur als Zeuge auf, sondern als Bevollmächtigter, der beauftragt worden ist, falsche Lehre zu berichtigen und Gegnern von Christus entgegenzuwirken (siehe 1 Joh 2:18-27; 4:1-6). In zweiten und dritten Johannesbrief gibt er sich einfach als der „Älteste“ zu erkennen und warnt nochmals vor falschen Lehrern. Von den fünf Büchern, die Johannes zugeschrieben werden, wird nur in der Offenbarung sein Name erwähnt. Hier wird der Verfasser in den ersten Versen gleich dreimal namentlich genannt (Offenbarung 1:1,4,9). Im Buch Mormon wird bestätigt, dass der Apostel Johannes den besonderen Auftrag erhielt, Visionen zu empfangen und sie aufzuschreiben.
In den Schriften des Bischofs Irenäus von Lyon (um 135–202), der in seiner Jugend ein Schüler von Polykarp von Smyrna (69–155), der – so schreibt Irenäus – seinerseits ein Schüler des Apostels Johannes war, steht geschrieben, das Johannes der Apostel zugleich der Verfasser des gleichnamigen Evangeliums war: „Zuletzt gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust ruhte, selbst das Evangelium heraus, als er sich in Ephesus in der Asia aufhielt“. Das ist die früheste Quelle über das Wirken eines Jüngers und Apostels Johannes außerhalb des Neuen Testaments.
Davon ausgehend können vier Feststellungen getroffen werden:
- Der Apostel Johannes ist der Lieblingsjünger.
- Er ist daher der Autor des Johannes-Evangeliums.
- Das Johannesevangelium wurde während seines Aufenthaltes in Ephesos – also zu seinen Lebzeiten – veröffentlicht.
- Es ist nach den synoptischen Evangelien geschrieben worden („zuletzt“).
Die gegenwärtige Forschung kritisiert die traditionelle Identifizierung des Lieblingsjüngers als Evangelisten. Das Schweigen des Johannesevangeliums über die Identität des Lieblingsjüngers ist Anlass für die „johanneische Frage: wie die Person des Evangelisten, des Apostels und des Lieblingsjüngers sich zueinander verhalten. Des Weiteren, die Frage nach zeitlichen Einordnung der Verfassung des Johannes-Evangeliums.
Das älteste bekannte Textzeugnis des Johannesevangeliums ist der Papyrus 52, der in Ägypten gefunden wurde. Er wird etwa auf die Zeit zwischen 100 und 150 nach Chr. datiert. Zu diesem Zeitpunkt muss das Evangelium demnach bereits existiert haben. Wenn der Verfasser ein Jünger Jesu war und das Todesjahr Jesu etwa in das Jahr 30 n. Chr. fiel, wird der Evangelist Johannes bis längstens etwa gegen Anfang des 2. Jahrhunderts gelebt haben (terminus ad quem). Wahrscheinlich hat Johannes das Evangelium und das Buch Offenbarung etwa 60 Jahre nach Christus während der Regierung des Kaisers Nero oder aber in einem späteren Zeitraum, etwa 90 Jahre nach Christus während der Regierung des Kaisers Domitian geschrieben. Beides jedenfalls Zeitpunkte nach dem Märtyrertod des Petrus, womit Johannes der dienstälteste Apostel war. Die meisten Bibelforscher verorten die Abfassungszeit des Evangeliums auf das Ende des 1. oder den Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. Dieser Schluss wird auch von einem der bedeutendsten Theologen des 2. Jahrhunderts, dem Kirchenvater Irenäus von Lyon bestätigt. Er schreibt: Und alle Presbyter, die in Asien bei Johannes, dem Jünger des Herrn, zusammengekommen waren, bezeugen, dass Johannes dies überliefert hat. Denn er blieb bei ihnen bis in die Zeit Trajans.
Auch der spätantike christliche Theologe und Geschichtsschreiber Eusebius von Caesarea (* 260/64 † 339 oder 340) bestätigt den Tod des Apostels in Ephesos unter Kaiser Trajan. Die Amtszeit Trajans dauerte von 98 bis 117 nach Chr., so dass der Evangelist frühestens 98 nach Chr. gestorben sein könnte.Es gibt viele Argumente gegen die Identifizierung des Evangelisten als Apostel Johannes oder als der Lieblingsjünger. Ein gewichtiges Argument ist z. B. das es schwer vorstellbar ist, dass das Evangelium auf die klare Benennung des Apostels Johannes als seinen Autor verzichtet, wenn sich das Johannesevangelium tatsächlich auf dessen Autorität stützen könnte. Doch das ist nicht zwingend. Letztlich muss offenbleiben, ob der Evangelist Johannes tatsächlich mit dem Apostel Johannes und dem Lieblingsjünger identisch ist. Eines ist jedenfalls unbestritten, der Lieblingsjünger im Johannesevangelium steht in ganz besonderer intimer Nähe zu Jesus:
- Er liegt beim gemeinsamen Mahl der Jünger vor der Passion an der „Brust“ Jesu und wird in dieser Szene zum ersten Mal bezeichnet als „der Jünger, den Jesus liebte“ (Joh 13,23).
- Er steht zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, unter dem Kreuz und erhält von Jesus einen besonderen Fürsorgeauftrag ihr gegenüber (Joh 19,26).
- Er kommt zusammen mit Petrus als einer der ersten zum Grab Jesu und wird so zum Zeugen der Auferstehung (Joh 20).
- Er identifiziert den auferstandenen Jesus vor den Jüngern (Joh 21,7).
- Er wird am Schluss des Johannesevangeliums nicht nur als dessen Autor herausgestellt (Joh 21,24), sondern von Jesus auch mit einer besonderen Prophezeiung ausgezeichnet (Joh 21,20-23).